Rezension:„Empire of Normality“ von Robert Chapman, Pluto Press, 2023

Von @frau_baeumer 

„Empire of Normality“ ist eine Kritik des Kapitalismus aus neurodivergenter Sicht mit den Mitteln des Marxismus. Eine starke Analyse!

Erst der Kapitalismus hat uns dazu gebracht, in Begriffen wie Norm und Divergenz zu denken. Wie es dazu kam, erklärt Robert Chapman anhand der europäischen Wirtschafts- und Ideengeschichte. 

Es begann mit der Kartesianischen Wende. Descartes sah den menschlichen Körper als eine lebendige Maschine. Wenn er erkrankte, war die Maschine kaputt und musste repariert werden. 

In der antiken Welt hingegen galt ein Mensch als gesund, der sich „in Balance“ befand. Wobei der Begriff Balance je nach Ort und Zeit unterschiedlich definiert wurde. Mit diesem Verständnis machten Descartes und seine Nachfolger*innen Schluss. 

Zur Zeit der Französischen Revolution kam erstmals der Begriff „normaler Mensch“ auf und wurde weiterentwickelt. Mathematiker*innen entwickelten Rechenmodelle, um Normwerte und Abweichungen zu bestimmen. Bis heute ist aber unklar, ob „normal“ den Durchschnitt oder ein Ideal bezeichnet.

Das kapitalistische Bürgertum setzte diese Modelle ein, um zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Menschen zu unterscheiden. Die nicht arbeitsfähigen wurden dann aussortiert und dem Elend überlassen. Einige wurden in Irrenhäusern verwahrt, andere in Gefängnissen oder Arbeitshäusern.

Im frühen 20. Jahrhundert kam der Fordismus auf und verstärkte die Entwicklung dieser zwingenden Industrienorm noch einmal. Auch in der Psychiatrie und in der (vom Autor als neoliberal verstandenen) Antipsychiatrie-Bewegung lässt sich das normative Krankheitsparadigma wiederfinden, das besagt: Alles, was signifikant von der soziokulturellen Norm abweicht, ist defizitär, kaputt oder krankhaft.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, hier mein persönliches Fazit:

  • Chapman kritisiert am Kapitalismus unter anderem, dass alles auf Kennzahlen reduziert wird – auch die Menschen. Zum Beispiel ist Verhaltenstherapie so weit verbreitet im Vergleich zu anderen Therapieformen, weil man ihren Erfolg sehr gut in Kennzahlen ausdrücken kann. Ich kenne solche Zahlen sehr gut aus eigenen Recherchen und gerade aktuell aus meiner Fortbildung „Betriebliches Gesundheitsmanagement“. Auch dort muss alles in Kennzahlen umgewandelt werden, z.B. um den Nutzen von betrieblichen Gesundheitsmaßnahmen zu belegen. Am Ende muss sich ja die Investition in die Gesundheit der Mitarbeitenden in Form von höherer Produktivität bezahlt machen. Allerdings möchte ich ergänzen, dass man diese Kennzahlen auch „gegen“ Arbeitgeber*innen wenden kann, z.B. indem man Arbeitnehmende in Befragungen bittet, ihren Job oder das Betriebsklima etc. zu raten.
  • Gegen Ende des Buches setzt sich Chapman noch mit der Neurodivergenzbewegung auseinander und zeigt die Gefahr auf, dass diese vom Kapitalismus vereinnahmt wird. Er sagt, dass eine erfolgreiche Neurodivergenzbewegung nur dazu führt, dass der Begriff der Normalität etwas erweitert wird. Z.B. werden einige Autist*innen und ADHS-ler*innen dann eine Arbeitsstelle finden. Bedingung ist, dass sie im Rahmen des Kapitalismus soweit funktionieren, dass sie mit Hilfe einiger Anpassungen am Arbeitsplatz produktiv sein können. Die anderen aber bleiben außen vor, denn der Kapitalismus braucht eine „Surplus Class“.  Ich teile diese Kritik im Prinzip, finde es aber ein wenig hart, wenn Chapman Neurodiversity-Aufklärung in den Betrieben als „Neo-Thatcherismus“ bezeichnet. Thatcher hatte sicherlich anderes im Sinn, als behinderte Menschen zu integrieren.

Am Ende des Buches macht Chapman viele Vorschläge, was man tun könnte, statt eine „neothatcheristische Neurodivergenzbewegung“ aufzubauen. Z.B. wirbt er für ein bedingungsloses Grundeinkommen als einen der ersten Schritte. Staatliche Gesundheitsdienste müssten radikal umgebaut werden, um Zwang zu beseitigen, die Macht der Ärzteschaft zu begrenzen und Krankheit und Behinderung anzuerkennen. In der Wissenschaft brauche es neue Mess- und Analysemethoden.

Auch die Gewerkschaften könnten eine wichtige Rolle übernehmen, so Chapman. Sie könnten dafür arbeiten, dass Neurodivergenz anerkannt wird. Das macht meines Erachtens Sinn in Bezug auf Arbeitsplatzgestaltung. Aber in Deutschland sind die Gewerkschaften leider lange noch nicht so weit wie in Großbritannien, dem Heimatland des Autors. Die deutschen Gewerkschaften haben die Bedeutung des Themas Neurodivergenz noch nicht erkannt. Da ist viel Arbeit nötig.

Ich empfehle euch, das Buch selbst zu lesen. Es hält einige Aha-Erlebnisse bereit. Und die nötigen Englischkenntnisse vorausgesetzt, ist es durchaus lesbar. Robert Chapman ist selbst neurodivergent und kommt aus einer Arbeiterfamilie. Offenbar legt er Wert darauf, verständlich zu schreiben, trotz des abstrakten Themas. Und das Buch hat (ohne Anmerkungen) auch nur 165 Seiten.

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